Neu: Biografisches Schreiben – Dein Selbstlernkurs!
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Wie es mir geholfen hat, alte Ängste aufzulösen
Als Kind habe ich Lisa Simpson bewundert. Nicht, dass ich sonderlich viel Fernsehen schauen durfte, aber es reichte, um einen Eindruck von der Figur zu bekommen. Sie war intelligent, mutig und ist für das eingetreten, was sie für richtig hält. Die Meinung Anderer war ihr nur peripher wichtig, sie ist sich selbst treu. Sprich: Sie war alles, was ich nicht war. Das wusste ich und machte mich ehrfürchtig.
Ich bin schon ängstlich auf die Welt gekommen. Berichten zufolge, habe ich als Baby niemand anderes als meine Mutter akzeptiert, entfernte sie sich ein paar Minuten, fing ich an zu schreien. Die Angst, meine Mutter könnte mich verlassen oder vergessen wurde präsenter. In den Kindergarten ging ich erst, als sie auch meine Kindergärtnerin wurde. Wenn ich bei FreundInnen war, hatte ich nach spätestens zwei Stunden panische Angst, sie würde vergessen, mich abzuholen.
Andere Ängste kamen dazu. Davor, Menschen anzusprechen, etwas Falsches zu sagen, jemand Falsches zu sein. Die anderen Mitschüler waren klüger, die Mädchen in meiner Klasse alle witziger und hübscher. In mir wuchs die Überzeugung, dass alle Anderen alles andere besser konnten.
In Gruppen fühlte ich mich unwohl, ich ging davon aus, dass mich eh keiner mochte.
Ich wuchs in einem kleinen belgischen Dorf ohne öffentliche Verkehrsmittel auf. Das kam mir entgegen – ich hätte mich eh nicht getraut, den Bus alleine zu nehmen. Oder überhaupt Neues auszuprobieren. Zu den Ängsten kamen immer wieder depressive Episoden, vermischt mit Trauerarbeit, da ich sehr früh meinen Vater verloren hatte.
Was mich davor gerettet hat, ebenfalls eine ängstlich-unsichere und depressive Erwachsene zu werden war mein innerer Ehrgeiz, der mich auch beim Klavier spielen – das Einzige, das ich meiner Meinung nach gut konnte – vorantrieb.
Als ich 15 war, war ich so dermaßen angenervt von meiner eigenen Ängstlichkeit, dass ich mir selbst ein striktes verhaltenstherapeutisches Training auferlegte. Ich erstelle eine Liste mit all den Dingen, vor denen ich Angst hatte. Ich beschloss, mich schrittweise voranzutasten.
Jeden Donnerstag zwang ich mich, den Bus von dem NATO-Hauptquartier, in dem ich auf die deutsche Schule ging nach Mons zu nehmen, wo ich auf die Musikakademie ging. Auf dem Weg von der Bushaltestelle zur Akademie fragte ich Menschen nach der Uhrzeit. Das funktionierte.
Ich erhöhte den Schwierigkeitsgrad meiner Aufgaben.
Ich nahm alleine den Zug um nach Deutschland zu fahren. Ich traute mich, alleine zu einem Workshop zu reisen. Ich machte den Führerschein (ganz schwieriges Kapitel). Ich zog nach Mons in eine kleine Wohnung. Ich zog nach Heidelberg. Allein in Deutschland, wo ich niemanden kannte und wo mir selbst das Eröffnen eines Bankkontos oder die deutsche Mülltrennung als unüberwindbare Hürde erschien. Im Rückblick frage ich mich manchmal, wie ich eigentlich überlebt habe. Ich bekam es hin. Durch konsequentes Angehen jeder einzelnen Angst.
Ich verbrachte jedes Praktikum in einer anderen Stadt, zwang mich, neue Menschen kennenzulernen, mich zurechtzufinden, zu arbeiten. Mein Studium als Musiktherapeutin brachte mich dahin, mit Menschen zu arbeiten, auf einmal als diejenige zu erscheinen, die Ahnung vom Leben hat. Ich stellte fest, dass ich tatsächlich begann, Ahnung zu haben.
Ich wurde mutiger. Mein selbstauferlegtes Verhaltenstraining zeigte Wirkung. Aber es gab ein Problem:
Ich konfrontierte mich zwar mit Ängsten und stellte mich ihnen entgegen. Sie waren dennoch da. Jedes Mal aufs Neue kostete es mich Kraft, jedes Mal musste ich mich überwinden. Ich schaffte es, den Mindestanforderungen meines Lebens gerecht zu werden, aber sonderlich bunt war es nicht. Oft zog ich mich tagelang in meine Studentenwohnung zurück, erschöpft vom Leben´.
Ich kam nicht an die Ursache meiner Ängste dran, in mir spürte ich eine Mauer, die ich nicht durchbrechen konnte.
Dann fiel mir eines Tages ein Buch in die Hand, das mein Leben verändern sollte: “Der Weg des Künstlers” von Julia Cameron.
Das Buch ist bekannt, vor allem heute. Damals hörte ich das erste Mal davon und beschloss, ihr darin beschriebenes zwölfwöchiges Programm zur Befreiung des inneren Künstlers mitzumachen. Ich wollte eigentlich nur freier improvisieren lernen auf dem Klavier. Ich bekam sehr viel mehr als das.
Ich hatte immer schon geschrieben, aber das Konzept der Morgenseiten war mir neu. Automatisches Schreiben direkt nach dem Aufstehen. Drei Seiten lang durchschreiben, ohne Pause, ohne den Stift niederzulegen. Ich fing an und hörte eineinhalb Jahre lang nicht damit auf, selbst wenn das zeitweise hieß, dass ich mir den Wecker auf fünf Uhr morgens stellen musste.
Ich schrieb mich durch Schichten von Gefühlen durch. Heute habe ich nur noch eine vage Ahnung davon, was ich alles in die Morgenseiten schrieb, aber ich weiß, dass es zeitweise Seiten voller Abscheu, Wut und Selbsthass waren. Ich beschimpfte mich aufs Übelste für jedes noch so kleine Vergehen, für jede Angst die ich spürte. Ich war daraufhin erschrocken über meinen Umgang mit mir selbst und schrieb auch darüber. Ich lästerte über mein Aussehen, meine Unsicherheit und mein Unvermögen, jeden Tag die kreativste, lustigste, beliebteste und einfallsreichste Person zu sein. Mit jeder Seite, die ich vollschrieb, wurde ich ein Stück leichter.
➡️Fun Fact: Ich verlor in der Zeit auch fünf unliebsame Kilos – ich schrieb sie mir regelrecht von der Seele.
Bedeutsamer als das war die Leichtigkeit, die ich im Alltag verspürte. Während ich mir vorher Pflichten auferlegt hatte, um meinen Ängsten zu begegnen, spürte ich zum ersten Mal wahre Lust aufs Leben und aufs Entdecken neuer Dinge. Ich begann mit Gesangsunterricht, besuchte einen Salsa Tanzkurs und suchte mir einen Nebenjob als Kellnerin (etwas, was ich mir vorher nie zugetraut hatte, da ich überzeugt war, zu untalentiert/dumm/unsicher dafür zu sein).
Ich fing mit dem Joggen an und stellte fest, dass die Aussage meines Schulsportlehrers (“Ich bin noch nie so einer unsportlichen Schülerin wie dir begegnet”) schlichtweg falsch war. Ich räumte auf mit Ideen, die ich von mir selbst hatte, wo auch immer sie herkamen.
Der große Vorteil des automatischen Schreibens liegt für mich darin, dass alle Gefühle ungefiltert einen Platz haben dürfen.
Wann darf man sich schonmal stundenlang selbst beschimpfen ohne die warnenden Worte des ‘das solltest du nicht tun’ zu vernehmen?
Ich kam dadurch an die Essenz meiner Ängste. Das Beste: ich musste diese gar nicht so genau benennen, ich schrieb einfach nur eine Gefühlsschicht nach der nächsten runter, bis nichts mehr übrig war von den niederschmetternden Annahmen über mich.
Automatisches Schreiben kann das. Du löst Dinge auf, ohne genau zu wissen, was du da gerade auflöst. Schicht für Schicht trägst du schreibend belastende und zerstörerische Gefühle ab.
Ich benutze die Seiten auch dazu, weitere unbequeme Gefühle zu untersuchen.
Woher kam das Gefühl, dass alle Anderen besser sind?
Woher die Überzeugung, dass mich keiner sehen würde?
Schreiben ist Detektivarbeit. Jeder Morgen begann mit Spuren- und Indiziensuche.
Irgendwann war es gut. Ich war an einem Punkt angekommen, wo ich aufhören konnte. Warum genau, weiß ich nicht mehr. Es war einfach gut so, wie es war. Andere Herausforderungen kamen auf mich zu, andere Wege des Schreibens passten besser zu mir.
Ängste gab es immer noch – mit drei großen Unterschieden. Sie waren viel schwächer und viel oberflächlicher. Zweitens: Ich hatte Freude und Spaß daran, ihnen zu begegnen. Es war kein mühseliges Pflichtprogramm mehr. Drittens: Ich wusste, dass ich ab sofort die Kontrolle über jede neue Angst habe.
Ich habe in den folgenden Jahren die Morgenseiten immer wieder für mich genutzt. Sie waren mir – zusammen mit anderen Schreibmethoden – stets eine treue Begleiterin, vor allem als ich Anfang 30 durch eine Jahre andauernde Trauerarbeit gehen musste.
Heute empfehle ich die Methode jedem. Anders als Julia Cameron, denke ich allerdings, dass es eine Zeit gibt, damit anzufangen und eine Zeit, damit auch wieder aufzuhören. Für andere Zeiten gibt es andere Schreibmethoden, andere Selbstreflexionsmethoden.
Da muss jede/r auf sich selbst hören.
Oder einfach wild ausprobieren – die Wege des Schreibens sind vielfältig und (un)ergründlich!
Hast du schon Erfahrungen gemacht mit dem automatischen Schreiben/den Morgenseiten?
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